Via: Untrustworthy – Agora, From Democracy to the Market, overview by HAUS DES DOKUMENTARFILMS
Nicht vertrauenswürdig
Agorá – Von der Demokratie zum Markt
11.02.2015
Thomas Schneider
Will man verstehen, wieso die Griechen ihrem neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras eine Chance gegeben haben, um das Land aus seiner schier hoffnungslos erscheinenden Schuldenmisere zu führen, der muss verstehen, wie die Griechen leiden, seitdem sie zum Armenhaus Europas wurden. Mit einer drastischen Innensicht leistet dies der von 2010 bis 2014 entstandene Dokumentarfilm »Agorá«, den der WDR heute in Erstausstrahlung zeigt. Auch wenn er spät im Programm steht und nur auf im Dritten: es ist möglicherweise der wichtigste Dokumentarfilm des Jahres. Weitere Dokutipps für den Donnerstagabend hier im Überblick.
Es zieht sich ein Motiv durch diesen Film, das die ganze Ungeheuerlichkeit zeigt, die über die Griechen hereingebrochen ist. Es zeigt einen Baum auf einem zentralen Platz in Athen. Dort begeht ein Grieche öffentlichen Selbstmord, weil er die Schande und die Hoffnungslosigkeit nicht länger tragen kann. Er ist, wie wir kurz darauf lernen, nur einer von 3124 Selbstmördern, die von 2009 bis 2012 auf diese Weise der größten Krise entronnen sind, in die das Land gestürzt ist. Es geht dabei nicht um Schuld und Schuldzuweisungen und nicht einmal darum, wer die Schulden des Landes verursacht hat. Es geht einzig und alleine darum, welches Leben noch lebenswert erscheint, wenn die Hoffnung gestorben ist.
Der 90-minütige Dokumentarfilm »Agorá« des griechischen Filmemachers Yórgos Avgerópoulos schildert die Eurokrise in seiner Heimat anders, als wir dies aus unserer Presse gewohnt sind. Der Film gibt den »Pleitegriechen«, den »größten Schuldner Europas«, Gesichter. Zum Beispiel das jenes Familienvaters, der mit seiner kleinen Tochter den ganzen Tag über durch die Straßen irrt, damit man ihnen nicht auf den ersten Blick ansehen möge, dass sie auf der Straße leben. Oder das jener verzweifelten Ehefrau, deren Mann sich das Leben nahm um den Schulden zu entkommen – jenen Gläubigern, die nun der Witwe nachjagen. Es sind erschütternde Bilder und Geschichten, die dieser Film summiert. Kaum auszuhalten.
Vor allem auch deshalb nicht, weil es Avgerópoulos nicht bei der Dokumentation der Zerstörung belässt, sondern in klug gewählten Interviews nach den Ursachen fahndet. »Griechenland war nie das Problem« heißt es da an einer Stelle, wenn es um die Gründe für das griechische Leid geht. Die Rettungsaktionen der sogenannten Troika brachten neue Schulden und harte Auflagen um Panik an den Finanzmärkten zu vermeiden. Doch der Filmemacher sucht auch nach den Verantwortlichen im eigenen Land. Er benennt die Verschwender, das System der Korruption und der politischen Erstarrung. Wie in einem Ermittlungsbericht seziert er, wie Griechenland immer tiefer ins Verderben rutschte, bleibt dabei aber stets ganz nahe bei denen, die das Schlammassel nun ausbaden sollen. Arbeit weg, Haus weg, Würde weg – der Abstieg im heutigen Griechenland trifft vor allem die Mittelschicht. Zurück bleibt Wut.
Die Folgen dieser Geldmarktpolitik, die, als Griechenhilfe verpackt, letztlich nur eine andere Dosis jenes Giftes ist, das sich weitere Opfer suchen wird, sind offensichtlich. Das Wiedererstarken der extremen Rechten und nun auch der Linken mit der neuen linken Regierung unter Alexis Tspiras sind nur die offensichtlichen Resultate. »Agorá« macht dies sichtbar. Wenn man Griechenland schon nicht wirklich helfen will, dann soll man zumindest sehen, wohin unterlassene Hilfeleistung führt. Der Untertitel des Filmes heißt »Von der Demokratie zum Markt«. Und das ist es wohl, was wir erwarten dürfen, wenn man einst über das 21. Jahrhundert schreiben wird: Erst starb der Markt, dann die Demokratie.
Hat man das nicht auch über des frühe 20. Jahrhundert schon geschrieben und als Ursache für all das ausgemacht, was folgte?
Dokumentarfilm, GR 2014, 95 Min., Regie: Yórgos Avgerópoulos, Produktion: WDR, Small Planet Documentary Production House und Al-Jazeera